Fortsetzung Ost

Andreas Thier 10/2017

Hintergrundrauschen

Seit Kaliningrad 2016 lässt mich ein Anblick nicht mehr los – Eine Beton (was sonst?) – Skulptur auf einer kleinen Anhöhe, etwas rechts der Straße. – Hammer und Sichel. Einst als stolzer Ausdruck eines sich selbst auf die Schulter klopfenden Systems (oder zu mindestens seiner Elite) errichtet, nun der Verwitterung und dem Verfall preisgegeben. Verfall bedeutet aber nicht das Ende. Natürlich geht es weiter. Es geht immer weiter.

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Kaliningrad 2016

Und genau das interessiert mich zunehmend. Wie geht es in den Ländern hinter dem einstigen eisernen Vorhang weiter? Ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall und der Auflösung der Sowjetunion und rund 100 Jahre nach der Oktoberrevolution, die wie kaum ein anderes Ereignis die Welt veränderte, aber letztendlich ohne Weltrevolution doch scheiterte. Wie arrangieren sich die Menschen mit den Veränderungen? Können sie und wenn ja, wie, davon profitieren? Noch immer sind diese Länder für mich eine Welt für sich. Um in meinem eigenen Weltbild daraus eine Welt formen zu können, führt wohl kein Weg daran vorbei, dort hin zu reisen. Noch nicht da gewesen zu sein und eine gewisse Neugier zu verspüren, sind mir schon immer Motivation genug gewesen, ein Land oder eine Region zu bereisen.

Die Tallin Tour 2016 war ein Auftakt dazu. Speziell die Erfahrungen mit freundlichen und offenen Menschen in Kaliningrad nährten den Wunsch, irgendwie und irgendwann das Thema weiter zu verfolgen. Neugierig und sensibilisiert verfolge ich seitdem die Berichterstattung zu Ereignissen zwischen Oder und Pazifik intensiver als zuvor. Und es gibt eine Menge Interessantes zu lesen und zu hören. Es ist für mich zu einer Art Hintergrundrauschen in der Wahrnehmung der Welt geworden.

Warum ausgerechnet Polen?  Im Oktober?

Aus einer gänzlich anderen Motivation, einer eher sportlich-historischen, führte mich im Mai 2017 eine Wochenendtour vom nördlichen Schleswig-Holstein nach Berlin („Ausreißversuch“). Die grobe Richtung war immerhin schon mal Südost.

Wie immer an den ersten grauen, an den nahenden Herbst/Winter erinnernden Tagen im September, drängen sich melancholische Gedanken an das Ende der Radsaison auf. Ein Blick ins Arbeitszeitkonto ergibt, dass noch ein paar Urlaubstage auf der Habenseite stehen. Menno, da sollte sich doch noch was machen lassen.

Andalusien – Sonne, Berge und Meer schießt es mir durch den Kopf. Klimatisch verlockend, wird mit dem zweiten Gedanken aber klar, dass ich überhaupt keine Lust auf das nervige  Flughafengewusel mit all den Sicherheitskontrollen und den mediterranen Urlaubsrummel habe. Bei der weiteren Suche nach neuen und unbekannten Zielen ergibt sich nur eine Richtung. Nach Osten.

Das ist der Moment, in dem sich das Hintergrundrauschen in den  Vordergrund schiebt. Natürlich nach Osten! Darauf hast Du doch ohnehin Lust, sage ich lächelnd zu mir selbst. Und schon geht der Entdeckergeist mit mir durch. Ich erwische mich dabei, wie ich nur mal so eben nebenbei via Google Maps die Entfernung zwischen meinem Wohnort und Wladiwostok prüfe. Rund 12.000 Kilometer. Das lässt sich doch locker in einem Sommer schaffen, lautet die spontane Analyse.

Eine durchaus lösbare Aufgabe
Eine durchaus lösbare Aufgabe

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àBerlin 420 km
àBialystok 880 km
à Moskau 1.300 km
à Ufa 1.350 km
à Astana 1.400 km
à Wladiwostok 6.750 km

Der Realitätscheck ergibt: Weder habe ich gerade sechs Monate Zeit, noch kann von Sommer die Rede sein. – Ernüchterung.

Die folgende Grobplanung für’s kleine (Zeitfenster) ist dann schon ermutigender. Im Sommer 2016 bin ich mit Polen irgendwie nicht so richtig warm geworden. Da will ich noch mal hin. Was mir im letzten Sommer fehlte, war der Kontakt zu den Menschen, denen ich begegnete. In meiner Lächel-Index Liste rangiert Polen bisher recht weit unten. Mein Lächel-Index drückt aus, wie viele Menschen, denen ich mit einem Lächeln begegne, zurück lächeln. Selbst Menschen, mit denen ich direkten Kontakt (Verkäuferin im Krämerladen) oder gar eine Gemeinsamkeit (Radreisende, -sportler) hatte, ließen sich ihre eiserne Miene nicht durch ein Lächeln von mir erweichen. Das war für mich eine ganz ungewohnte Situation. Auf meinen Radreisen habe ich bisher ganz das Gegenteil erlebt. Ich nehme mir für diese Tour vor, herauszufinden, wie und ob sich das Eis nicht doch etwas schmelzen lässt. Mit diesem Vorsatz verdränge ich die landläufigen Ratschläge „dann lass Dir mal das Rad nicht klauen“ natürlich ebenso, wie die Berichterstattung über die Bestrebungen der nationalkonservativen Regierung den Rechtsstaat einzuschränken und die EU-Partner zu provozieren.

Für eine Durchquerung Polens von West nach Ost sind etwa 800 bis 900 Kilometer zu veranschlagen. Das passt  normalerweise in eine Woche hinein. Mehr Zeit habe ich eh nicht. Da die zweite Oktoberwoche für mich nicht unbedingt eine „normalerweise“ Reisezeit ist, untersuche ich die Randbedingungen etwas gründlicher. Die Sonnenauf- und Untergangszeiten machen unmissverständlich klar, dass in jedem Fall mit recht kompakten Fahrtagen zu rechnen ist. Es wird früh dunkel. Zudem ist von kühleren Temperaturen auszugehen. Aber – juchu – die kontinentale Lage schlägt auf das Klima durch. Im langjährigen Mittel fallen im Oktober, verteilt auf sechs Tage, 39 mm Niederschlag. Das ist Südspanien Niveau. Na also. Geht doch.

Mit den nach-Osten-Gedanken drängt sich als logische Konsequenz genau eine Route auf. Berlin – Bialystok. Mit dem Start in Berlin könnte ich quasi an die Tour vom Mai anknüpfen. Damit ist die Sache klar. Die Polendurchquerung im (hoffentlich) regenarmen Oktober soll meine „Fortsetzung Ost“ werden. Und von Bialystok nach Moskau wären es dann nur noch 1.070 Kilometer. Vielleicht für eine mögliche weitere Fortsetzung-Ost…

Das Abenteuer im Abenteuer

Als angenehmen Nebeneffekt betrachte ich die Möglichkeit, die An- und Abreise entspannt per Bahn zurücklegen zu können. Eine Bahnfahrt von Kiel nach Berlin ist völlig unkapriziös und in Bialystok gibt wohl keinen internationalen Flughafen, aber einen Bahnhof.  Zudem heißt es in einem (älteren) Werbeslogan „Bahnfahren ist Urlaub von Anfang an“. Aber Anschlussmöglichkeiten sind ja bekanntermaßen nur Möglichkeiten

Ein ungewisser Verlauf oder Ausgang ist schlichtweg DAS Kriterium für ein echtes Abenteuer. Bereits im Vorfeld stehen die Chancen auf ein Abenteuer nicht schlecht. Der Fahrkartenkauf  für die Rückreise stellt sowohl das DB Online Portal, wie auch sämtliche aufgesuchte Fahrkartenschaltermitarbeiter vor unlösbare Probleme. Kurzum, niemand kann mir ein Ticket von Bialystok nach Kiel verkaufen. Spätestens der Fahrradtransport lässt alle Versuche scheitern. Ich nehme die Sache nicht persönlich und begnüge mich mit den Tickets Warschau – Berlin (nur Mensch) für Sonntag Mittag (15.10) und Berlin-Kiel (Mensch und Fahrrad) für Montag Morgen (16.10). Mut zur Lücke, die restlichen Tickets löse ich eben in Polen.

Somit starte ich also voller Optimismus mit einer offenen Position und vertraue darauf, irgendwie am Morgen des 15.10. die rund 200 Kilometer von Bialystok nach Warschau so rechtzeitig mit der Bahn zurücklegen zu können, dass ich meinen Anschlusszug erwische. Der geneigte Bahnfahrer mag in dem Satz die wunden Punkte „rechtzeitig“ und „Anschlusszug“ identifizieren. – „Det ordnar sig“ – „Das wird schon“, wie die Schweden sagen.

Der tatsächliche Start fällt dann genau auf das Ende der Woche mit diesem verheerenden Sturm. Es ist Freitag und direkt nach der Arbeit soll es losgehen. Medien und DB Online melden im Stundentakt größere Ausmaße der Verwüstung. Vor allem  Oberleitungen sind von umstürzenden Bäumen betroffen. Die Achse Hamburg – Berlin ist bereits gegen Mittag dicht. Daher entscheide ich mich am frühen Nachmittag, es über die Nebenstrecke Lübeck – Bad Kleinen zu versuchen. Laut DB Online ist dort noch alles im grünen Bereich.

Zunächst geht es auch zügig voran, wenn auch in total überfüllten Zügen. Letztendlich landet aber auch diese Fahrt in einer Sackgasse. Selbst das Zugpersonal erhält über betriebsinterne Kanäle keine verlässlichen Informationen mehr. Ich finde es absolut bemerkenswert, was angesichts des systembedingten Chaos, die DB’ler vor Ort leisten. Teilweise sind sie rund um die Uhr im Einsatz, um „ihre“ Züge und Strecken am Leben zu halten. Trotz aller Anstrengungen endet der Tag für mich nicht in Berlin,  sondern in Neubrandenburg. Immerhin in einem netten Hotel, welches mir von dem Rad Event der Mecklenburger Seenrunde bekannt ist.

Schweren Herzens verzichte ich am Morgen auf das gute Frühstück, um den frühen Zug nach Berlin zu bekommen. DB Online meldet auch dann noch „alles im gründen Bereich“, als der Zug 15 Minuten nach der geplanten Abfahrtszeit als Ausfall durchgesagt wird. – Na toll!

Als das absurde Theater zwei Stunden später exakt die gleiche Vorstellung gibt, ziehe ich es ernsthaft in Erwägung, mit dem Rad nach Berlin zu fahren. Das würde mich einen Tag meines Zeitbudgets kosten. Bei nur einer Woche Reisezeit ein herber Verlust. Bevor ich die Überlegung zu einem Ende bringen kann, scheucht eine Zugbegleiterin uns Berlinreisende in einen Triebwagen nach Güstrow, was eher in der Gegenrichtung liegt. Sie hat es geschafft, bei der Fahrdienstleitung den Halt eines Zuges in Güstrow durchzusetzen, der nach Berlin fährt und nicht planmäßig in Güstrow hält. – Danke! Das war ein toller Einsatz!

Ein Mitreisender mit Pedelec entpuppt sich als Bahner. Ihm zerrinnt gerade das Wochenende, welches er von der Arbeit kommend, in Berlin bei seiner Frau verbringen wollte. Da er kein Auto besitzt, ist sein Pedelec in Verbindung mit der Bahn ein wichtiges Verkehrsmittel für ihn. Wir kommen in eine kurzweilige Unterhaltung über das Alltagsradeln und DB Insidergeschichten. So erfahre ich beispielsweise, dass die Sicherheitsstreifen (gegen fallende Bäume) entlang der Bahntrassen aus Naturschutz- und wohl auch ganz stark aus Kostengründen viel schmaler ausfallen als früher und eben als die Bäume lang sind.

Viel spannender entpuppt sich für mich die Tatsache, dass seine Frau aus Russland stammt und er sich einigermaßen im südwestlichen Russland und auf der Krim auskennt. Die Bahnfahrt nach Berlin erscheint mir plötzlich als viel zu kurz.

 

Um 11:18 erreiche ich dann am Samstag den Berliner Hauptbahnhof und bin froh, es trotz aller Widrigkeiten geschafft zu haben. – Erstmal frühstücken! Obligatorisch radel ich am Brandenburger Tor vorbei, denn hier endete die Mai Tour. Dann geht es direkt ins Steel Vintage Cafe. Ein Muss, wenn man mit dem Rad in Berlin ist, wie ich finde. (Ohne das Bahnchaos hätte ich gar nicht die Gelegenheit dazu gehabt, da ich am Samstag Morgen vor der Öffnungszeit des Cafes gestartet wäre.)

Die velophile Umgebung ist ein schönes Ambiente für den Start einer Radtour. Alle sind entspannt und gut drauf und ich bin schnell in Gespräche verstrickt, was angesichts meines bepackten Rades kein Wunder ist. Als ich dann mit Kaffee und Futter an einem Tisch sitze, entwickelt sich ein tiefer gehendes Gespräch mit einem Typen aus Süddeutschland, der einen Tick älter sein mag als ich. Ein Burn Out und privat-tektonische Plattenverschiebungen führten dazu, dass er sich eine längere Auszeit in Berlin nimmt.

Diese guten Gespräche und Kontakte geben mir wieder das Gefühl, unterwegs zu Hause zu sein. Das schätze ich am Unterwegssein. Mal schauen, ob das gen Osten mit den Kontakten so weiter geht.

Einen halben Tag hat mich das Abenteuer Bahn gekostet. Das ist nichts, was mich angesichts der vor mir liegenden Strecke ernsthaft beunruhigt. Auf eine Pufferzeit kann ich dadurch allerdings nicht mehr zurückgreifen. Die Gedanken an die offene  Position der Rückfahrt verdränge ich. Gegen 13:30 heißt es dann: Los! – Bereits nach kurzer Zeit im Regen fahre zu müssen, ist mir völlig egal. Ich sitze im Sattel. Ich bin unterwegs. Ab jetzt bestimme ich meinen eigenen Fahrplan.

Grenzerfahrung

Das vielleicht einzige wirklich authentische Denkmal der deutschen Wiedervereinigung mag die East Side Gallery in Berlin Friedrichshain sein. Sie versteht sich nach eigener Aussage als „Denkmal für den Fall der Mauer und der friedlichen Überwindung von Grenzen und Konventionen zwischen Gesellschaften und Menschen“… Sie ist mit 1.316 Metern Länge die längste Open Air  Gallery der Welt und war einst ein Teil der Grenze zwischen Ost- und West Berlin. Rund 100 direkt an die Mauer gemalte Bilder feiern und mahnen zugleich. Mauerfall, Überwindung des Eisernen Vorhangs und Freiheit stehen gegen Verfolgung , Bespitzelung und Unfreiheit. Sie sind Ausdruck der Hoffnung nach einer besseren, menschlicheren Gesellschaft und stehen auch für persönliche Schicksale, Wünsche und Träume. Einen symbolträchtigeren Auftakt für meine Tour kann ich mir kaum vorstellen.

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Ich bin fast überrascht, wie bald die Stadtgrenze hinter mir liegt und wie grün die Umgebung ist. Mit zunehmendem Abstand zur Stadt werden die Radwege grundsätzlich immer besser. Aber die Auswirkungen des Sturms sind natürlich noch nicht beseitigt. Teilweise sind die Radwege schlichtweg nicht befahrbar.

Die anfänglichen Schauer entwickeln sich im Laufe der zweiten Tageshälfte zum Dauerregen.  In Fürstenwalde lasse ich es dann nach 63 km auch gut sein für den Tag und gönne mir mit dem direkt an der Spree gelegenen Hotel Spreebogen eine wirklich nette Unterkunft. Der Abend klingt mit Tagebuchschreiben und Kartenstudium aus. Die polnische Grenze ist nur noch 40 km entfernt.

Durch brandenburgische Auen-, Wald- und Seenlandschaften rolle ich gen Osten. Frankfurt an der Oder klingt für mich schon ganz schön östlich. Dabei bin ich ja noch am Beginn der Reise. Ich muss wirklich zugeben, dass mich die 58.000 Einwohner Stadt doch sehr positiv überrascht. Wenn auch im Innenstadtbereich sozialistische Architektur unübersehbar ist, so gibt es doch auch nette Straßenzüge mit alten Bürgerhäusern. Die frühere Kaufmannssiedlung lag an der Kreuzung mehrerer Fernhandelsstraßen und bekam bereits 1225 das Markt- und Niederschlagsrecht verliehen.

Mehr noch beeindruckt mich die Oder. Sie ist mit fast 900 km Länge immerhin der fünftgrößte Fluss Deutschlands. Ihr Einzugsgebiet wird im Westen von der Elbe und im Osten von der Weichsel begrenzt. Der mittlere Abfluss ins Stettiner Haff beträgt fast 600 m³ pro Sekunde. So ein mächtiger Strom macht als Grenze schon ganz schön was her und hat in diesem Fall auch geopolitische Bedeutung. Mit der am Horizont der Geschichte aufziehenden deutschen Wiedervereinigung wuchs in Polen die Befürchtung, das vereinigte Deutschland könnte seine Ostgrenze revisionieren. Daher verlangten die vier Siegermächte als Voraussetzung für die Zustimmung der zur Deutschen Einheit die endgültige Anerkennung der Grenze an der Oder und an der Lausitzer Neiße. In dem sogenannten Zwei-plus-Vier-Vertrag wurde die die Oder-Neiße-Grenze formal verankert.

Durch den Beitritt Polens zur Europäischen Union (2004) und zum Schengener Abkommen (2007) verlor die Grenze einen Großteil ihrer trennenden Wirkung, was ja nun auch dem Geiste eines gemeinsamen Europas entspricht.

Über die Oder-Brücke gelange ich in die 16.000 Einwohner zählende Stadt Slubice. Hier dominieren die 70er Jahre Plattenbauten deutlich. Nach einem wirklich kurzen Blick in die Stadt zieht es mich auf die Landstraßen. Mit 12 Grad Ist es zwar nicht gerade warm, aber es heitert immer mehr auf und der Rückenwind unterstützt meine Fahrt.

Die Straßen sind etwas schmal, aber von guter Beschaffenheit. Die Ortschaften weisen zwar einen gewissen rustikalen Charme auf, wirken aber auf mich sehr aufgeräumt und freundlich. Es ist Sonntag Vormittag und hier hat man die Kirche im wahrsten Sinne des Wortes im Dorf gelassen. Die Gotteshäuser müssen bis auf den letzten Platz gefüllt sein. Mehr als einmal staune ich, wie viele Menschen in die eine oder andere Kirche strömen. Nahezu alle Gottesdienstbesucher haben sich richtig fein herausgeputzt. Der sonntägliche Kirchgang scheint ein echtes Ereignis zu sein.

Zwischen zwei Dörfern und den klerikalen Ritualen nehme ich von weitem in einer Lichtung am Straßenrand zwei wartende junge Damen wahr. Angesichts der kühlen Temperaturen denke ich mir noch, dass sie eigentlich etwas leicht bekleidet sind und vermute, dass sie darauf warten, von jemandem ins nächste Dorf mit zur Kirche genommen zu werden. Noch bevor ich auf ihrer Höhe bin, wird mir klar, dass sie zwar warten, aber jemandem eine ganz andere Messe lesen wollen. Ich sehe auf meinen Touren ja so einiges entlang der Straßen, aber diesen engen sonntäglichen Gegensatz zwischen Straßenstrich und Kirchenfest finde ich doch ziemlich kontrastreich.

Meine Route führt nun zunehmend über Nebenstraßen, sodass ich mir um den Verkehr keine Gedanken mehr machen muss. Während ich durch eine abwechslungsreiche Landschaft rolle, geht mir die Sache mit den Damen an der Straße nicht ganz aus dem Kopf. Ich glaube, vor allem  über die Duldung erstaunt zu sein, wo doch die polnische Kirche  jegliche Säkularisierung verteufelt.

Unterwegs in Polen
Unterwegs in Polen

 

Die Katholische Kirche  hat in Polen eine besondere Stellung. Unter der kommunistischen Herrschaft war sie so etwas wie eine systemunabhängige Gegenmacht, die viele Menschen anzog. Und sicherlich hatte sie ihren Anteil bei der Bereitung des Bodens für die Entstehung der Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc, die ihrerseits wiederum ihren Anteil am Fall des Kommunismus hatte. Und dennoch darf man nicht vergessen, dass die katholische Kirche natürlich ein eigenes System mit erheblichem politischem Einfluss darstellt. Rund 300 Presseorgane und 50 Radio- und Fernsehsender werden ihr zugeordnet. Heutzutage gilt die katholische Kirche Polens als klare Unterstützerin der nationalkonservativen Regierung in Warschau.

Polens Kirche und die Nationalkonservativen eint unter anderem der Gedanke, dass sie stets fremde, nicht polnische Einflüsse abzuwehren hätten. Dieses Denkmuster wird durch den Mythos genährt, dass Polens König Johann III. Sobieski samt Reiterheer 1683 entscheidend bei der erfolgreichen Verteidigung Wiens gegen die Osmanen beteiligt war. Der damalige Sieg des christlichen Abendlandes über den islamischen Orient scheint jedenfalls im heutigen Kollektivbewusstsein stark nachzuwirken.

So haben gestern beispielsweise zehntausende Katholiken an Polens Außengrenzen Menschenketten gebildet und Gott um die „Rettung Polens und der Welt“ gebeten. Dazu eingeladen hatte neben einer Stiftung auch die polnische Bischofskonferenz. Die Aktion fand am Tag des Festes „Unserer Lieben Frau vom Rosenkranz“ statt, welches seit der Seeschlacht von Lepanto im Jahr 1571 begangen wird. Damals besiegte die christliche Flotte die muslimische Übermacht und rettete damit „Europa  vor der Islamisierung“, wie die Veranstalter erklären. Jegliche Ausprägung von Fundamentalismus ist mir einfach suspekt und entspricht nicht meinem aufgeklärten Denken.

Da ich die Sache ohnehin nicht auflösen kann, lasse ich sie wie sie ist. Als Reisender ist man ja ohnehin eher Beobachter. So fahre ich bei herrlichem Sonnenschein weiter durch die Woiwodschaft Lebus, passiere kleine Bauernhöfe und sonntagsruhende Dörfer. Unterwegs kommt es mir fast menschenleer vor, was allerdings bei der Wahl der Nebenstraßen auch nicht wirklich verwunderlich ist. Aber in den kleinen Städten, durch die ich komme, herrscht schon etwas Sonntagsleben. Männer treffen sich auf dem Dorfplatz und junge Familien flanieren mit Kinderwagen, Kindern und Großeltern.

Miedzyrzecz ist eine Stadt mit rund 18.000 Einwohnern. Die erste geschichtliche Erwähnung datiert auf 1005. An der Kreuzung der Wege Gnesen-Magdeburg und Stettin-Breslau/Krakau gelegen, hatte der  Ort eine strategisch wichtige Bedeutung. Meine Strategie sieht vor, hier nach 126 km im Sattel, ein Quartier zu beziehen. Das gelingt dann auch in einer Art Pub mit Zimmervermietung. Den Abend verbringe ich dann in einem angenehm säkularen Umfeld. Der Laden ist gut besucht, denn auf einem Großmonitor wird das Fußball Länderspiel Polen-Montenegro übertragen. Ins Gespräch komme ich dadurch nicht, aber einfach mal Leute gucken ist ja auch spannend. Mit meinem ersten Tag in Polen bin ich jedenfalls rundum zufrieden. Hinter Ländergrenzen tickt das Leben doch immer etwas anders. Das zu erfahren ist ja ein Teil des Antriebes zum Reisen.

Rad- / Kultur

Ein vielversprechender Start. Mit einem frühen Frühstück hat es geklappt, sodass ich um 08:30 im Sattel sitze. Morgens zeitig in die Gänge zu kommen ist mir wirklich wichtig, denn die Tage sind wirklich deutlich kürzer als im Spätsommer.

Die Routenwahl entpuppt sich als Volltreffer. Ich bin hauptsächlich auf gut befahrbaren und wenig frequentierten Nebenstraßen und Wegen unterwegs. Ist es nicht vermeidbar, mal abschnittsweise einer Hauptverkehrsachse zu folgen, stehen ganz ordentliche Radwege zu Verfügung. Zudem lacht die Sonne und der Wind schiebt von Westen kommend. Allerdings ist es kühl. Die Temperatur ist so eben zweistellig, fühlt sich aufgrund des Windes jedoch deutlich kühler an. Beschwingt pedaliere ich durch die ländlichen Regionen.

Fernstraße mit Radweg
Fernstraße mit Radweg

Mit Gedanken an einen heißen Kaffee, plane ich In einem 6.500 Einwohner Städtchen eine Pause einzulegen. Ich finde zwar zwei Bäckereien, aber beide bieten keinen Kaffee an. Ein Bäcker verkauft eben Brot und Kuchen. Und Kaffee trinkt man zu Hause. Also lege ich eine Draußen-Pause im zentralen Mini-Stadt-Park ein. Froh, eine wattierte Jacke überziehen zu können, trotze ich den kühlen Temperaturen, genieße meinen Kuchen und beobachte das Kleinstadttreiben. Hier ist es wie in den Dörfern. Selbst wenn ich jemanden freundlich, lächelnd anschaue, begegne ich nur ausdruckslosen, kühlen Gesichtern. Das fühlt sich schon wirklich sehr fremd an.

Kleinstadt
Kleinstadt

Immerhin gibt es in dem Städtchen ein Radgeschäft und ich sehe einige Alltagsradler. Überhaupt scheint das Fahrrad in Polen wieder zunehmend ein Thema zu sein. Selbst zu Dekorationszwecken findet es bei einem Bekleidungsgeschäft Verwendung, vielleicht ein Hauch von Radkultur. Das rettet dem Ort immerhin ein paar Sympathiepunkte .

Der Rest des Tages verläuft so perfekt, wie der Vormittag. Erst mit der Annäherung an Posen nimmt die Verkehrsdichte deutlich zu. In der äußeren Peripherie gestaltet sich das Radfahren äußerst kapriziös. Nach der Einsamkeit nervt der Verkehr total. Oftmals ergibt sich keine sinnvolle Verkehrsführung für Radfahrer, da alles auf den motorisierten Verkehr ausgelegt ist. Um nicht auf der Autobahn zu fahren (nein, diesmal nicht), lande ich auf einer fast nicht befahrbaren Sandpiste, auf der sich Schlagloch an Schlagloch reiht. Wie gut, dass es trocken ist.

Mit der Annäherung an die eigentliche Stadt ändert sich die Sachlage komplett. Ich stoße auf eine vorbildliche Radinfrastruktur, so dass das urbane Radeln ins Posener Zentrum ein Leichtes ist.

Rad-Infrastruktur in Posen
Rad-Infrastruktur in Posen

Je näher ich dem Zentrum komme, desto mehr Radfahrer bekomme ich zu Gesicht. Alltagsradler, Fitnessradler und Rennradler. Und das Beste – hier wird angesichts meines bepackten Rades gelächelt und gegrüßt. Und zwar nicht nur erwidernd, sondern auch initiativ. Was für eine schöne Atmosphäre. Die nervigen Kilometer sind schnell vergessen. Es ist doch erstaunlich, wie groß der Kontrast zwischen Stadt und Land sein kann.

Aus dem Verkehrsfluss der Ampelphasen ergibt es sich, dass ich ein Stück des Weges zusammen mit einer Radlerin zurücklege. Sie ist ausgesprochen stadtfein und elegant gekleidet und fährt auf einem knallroten Hollandrad in die Stadt. Da ich tagsüber auf dem Land ja kaum mit jemandem richtig kommuniziere, wage ich den Vorstoß und spreche ihr ein Kompliment über ihr wirklich stilvolles Setup aus. Sie lächelt freundlich und bedankt sich. Und so radeln wir englisch parlierend ins Zentrum.

Als ich wenig später den ersten Single Speed Fahrer entdecke, steht für mich fest, dass Posen Radkultur hat. Und Cafés. Und richtig guten Kaffee. Posen ist ein moderner urbaner Raum mit einer hohen Lebensqualität, wie ich vermute.

Nach einer kleinen Stadterkundung lasse ich mich am historischen Marktplatz in einem Café mit eher jüngerer Klientel nieder. Auch hier komme ich ohne große Anstrengung mit Leuten ins Gespräch. Wie mir scheint, ist die Gruppe der gut englisch sprechenden unter vierzigjährigen Städter sogar ausgesprochen mitteilsam. Wahrscheinlich würde ein nicht deutsch Sprechender Reisender in Deutschland ähnliche Erfahrungen machen. Wieder mal wird mir immer bewusst, wie wertvoll es ist, dass Menschen auf eine gut verbreitete Verkehrssprache zurückgreifen können. So erfahre ich ein bisschen mehr über das Leben in Posen und Polen.

Ansonsten lässt sich sagen, dass die Stadt über 500.000 Einwohner zählt und ein wichtiges Zentrum für Industrie, Handel und Forschung ist. Es gibt vier Universitäten und verschiedene Akademien. Wichtige Industriebranchen sind Maschinenbau, Elektrotechnik, Brauereiwesen und Metallindustrie. Die Volkswagen AG  betreibt ein Werk, in dem unter anderem der Caddy und der Bulli T6 hergestellt wird. Volkswagen ist der zweitgrößte Exporteur Polens.

Posen kann auf eine sehr lange Geschichte zurückblicken. Die ältesten Siedlungsspuren sind über 12.000 Jahre alt. Als erster polnischer Bischofssitz findet die Stadt bereits 968 Erwähnung. Im 16. Jahrhundert steigt Posen zu einem der wichtigsten Handelszentren des damaligen polnischen Staates auf und erlebt eine Blütezeit. Die historische Altstadt mit dem alten Rathaus und dem Marktplatz vermitteln einen Eindruck der großen Zeit. 2016 war Posen einer der Kandidaten für die Wahl der Kulturhauptstadt Europas.

Da Posen vom Stadtkern aus besonders stark in Richtung Westen und Süden gewachsen ist, kann ich das Stadtgebiet in Richtung Osten erfreulich schnell verlassen. Zwanzig bis dreißig Kilometer will ich noch fahren. Dann habe ich morgen eine bessere Ausgangsposition und brauche nicht durch den morgendlichen Großstadtverkehr zu radeln. In Kobylnica finde ich nach 129 km für 35,- Euro ein gutes Hotel mit vorzüglicher Küche. Ein perfekter Radtag neigt sich dem Ende zu.

Cos ze wszystkiego

Von allem etwas. – Das ist routentechnisch wohl die treffendste Formulierung für den vierten Tag der Tour. Wenigstens das Wetter ist eine feste Bank. 8 Grad, heiter, Westwind. Damit lässt sich leben. Die Straßen erfordern da schon mehr Aufmerksamkeit.

Die verkehrstechnisch günstigen, meist direkten, Verbindungen zwischen den Städten sind in der Regel stark frequentiert. Abschnittsweise gibt es keine echten Alternativen zu diesen Strecken. Denn die Nebenstraßen verlaufen natürlich nicht parallel zu den Hauptachsen, sondern erschließen das Land rechts und links der Überlandstraßen. Das bringt mich nicht wirklich weiter nach Osten.

So bin ich auf der „5“ in Richtung Gnesen unterwegs. Anfangs weist die Straße einen halbwegs nutzbaren Seitenstreifen auf, so dass ich die Breite insgesamt komfortabel finde. Doch dann wird es irgendwann schmal. Zudem besteht das Bankett  meist aus losem, nicht befahrbarem Material und teilweise ist die Fahrbahn schon mehrfach (ohne abzufräsen) überteert worden, so dass ich manchmal an einem 20 bis 30 cm hohen „Abgrund“ entlang balanciere.

An dieser Stelle muss ich wirklich eine Lanze für die polnischen Trucker brechen. Auf der ganzen Tour hat mich nicht ein polnischer Truck gefährlich überholt. Herrscht Gegenverkehr, schalten die Trucker herunter und bleiben hinter einem, bis ein Überholen möglich ist. Lediglich einmal hätte mich ein Bursche beinahe aus dem Sattel geholt. Der kam allerdings aus Belarus, also aus Weißrussland. Zudem war ich innerlich vorbereitet, zur Not vom Asphaltband zu flüchten. Denn ich hatte sehr wohl vernommen, dass er ohne Überholmöglichkeit von hinten heran rauschte, ohne runter zu schalten. Wahre Hell Driver sind allerdings die Sprinter Piloten. Ich verwende das mal synonym für alle Lieferwagenfahrer. Die fahren in Polen genau so bekloppt wie in ganz Europa. Das ist definitiv äußerst gefährlich.

Doch zunächst gibt es eine Pause in Gnesen. Und ich bin sehr froh eine Möglichkeit zu finden, dem kühlen Wind zu entfliehen. Das angesteuerte Café gehört zu einer Franchising Kette, deren Erkennungszeichen ein weißes Deko Rad ist. Alles ist romantisch auf Country Life gestylt. Das ist sehr ähnlich wie in anderen europäischen Städten. Dabei bin ich mir sicher, dass kaum einer aus der Kundschaft wirklich in der (letztendlich doch rückständigen) Country Side leben möchte.

Stylische Café in Gnesen
Stylische Café in Gnesen

Ich folge noch meiner spontanen Eingebung zum Bahnhof, um die fehlenden Zugtickets zu beschaffen. Vollständig an der Verständigung mit der Dame von der Polnischen Staatsbahn  gescheitert, erklärt sich ein junger Bursche bereit zu dolmetschen. Nachdem der Dame mein Anliegen klar geworden ist, folgt ein Redeschwall von bestimmt fünfzehn Sätzen. Anhand der Gestik ahne ich nichts Gutes. Der Bursche muss schon grinsen. Er zwinkert mir anschließend  zu und fasst die die Sache in einem Satz zusammen. Für ein „internationales Ticket“ (Warschau-Berlin) müsse ich nach Posen zum Bahnhof. Mir schien die arme Dame war in der Überforderung einem Herzinfarkt nahe, weil jemand etwas so Unerhörtes wie ein grenzüberschreitendes Ticket kaufen wollte.

Auf dem Rad bin ich bestimmt nicht zimperlich, aber nach der Kaffeepause in Gnesen bin ich doch froh, wieder auf Land- und Nebenstraßen ausweichen zu können. Zum einen will ich die Geduld  der Trucker nicht überstrapazieren und zum anderen bin ich mir wirklich nicht sicher, ob bei einem Konvoi, der zweite oder dritte Fahrer richtig mitschneidet, warum der erste etwas ausschert. Die Burschen fahren ja mitunter sehr dicht hintereinander her. Und somit bin ich für die Folgefahrer solange unsichtbar, bis mich das Ende des überholenden Trailers passiert hat. Wenn der Folgefahrer nicht bereits mit rüber gezogen ist, hätte er jedenfalls keine Chance mehr auszuweichen.

Die Nebenstraßen sind zum Glück weitaus geringer frequentiert. Die Pkw Fahrer halten zwar auch immer deutlichen Abstand. Aber sie fahren immer – und ich meine immer – viel zu schnell. Eine Polin meinte mal, es sei so ein Männlichkeitsding. Aber ich kann versichern, auch Frauen jeden Alters fahren immer viel zu schnell. Auch junge Frauen mit Kleinkind im Maxi Cosi auf der Rückbank ballern manchmal mit geschätzten 100 km/h durch Straßendörfer. Auf den Nebenstraßen kann ich damit umgehen. Aber nervig ist es schon. Vor allem, wenn die Straßenränder derart verwittert sind, dass sie mit einem Fahrrad nicht benutzbar sind und man daher etwas mittiger fahren muss. Sobald ich so ein Geschoss wahrnehme, trolle ich mich an den rumpeligen Rand. Teilweise werden die Fahrzeuge so durch die Schlaglöcher geprügelt, dass sie sich schon aus den Federn heben und kaum mehr beherrschbar sind. Wenn der Fahrer dann noch zeitgleich sein Smartphone bedient, möchte ich nicht zur falschen Zeit am falschen Ort sein. Unterstrichen wird das Ganze von zahlreichen Kreuzen am Straßenrand, die als stumme Zeugen der polnischen Unfallstatistik postieren.

Verkehrstote pro 1 Million Einwohner (2014):
Deutschland 42 / EU-Durchschnitt 50,5 / Polen 70 / Litauen, Bulgarien 90 / Rumänien 91 / Lettland 106

Die Nebenstraßen weisen allerdings die nicht unerhebliche Herausforderung auf, dass von der Klassifizierung in Straßenkarten keineswegs eindeutig ein Zustand abgeleitet werden kann. Manch eine Straße ist in den Genuss von irgendwelchen EU-Strukturförderungen gekommen,   andere eben nicht. Zudem kann der Zustand im Verlauf schlagartig wechseln. Ein Umkehren ist nicht sinnvoll, da ohnehin nicht davon ausgegangen werden kann, dass andere Straßen besser sind. Die Straßenbeschaffenheit hat natürlich einen starken Einfluss auf die Tagesdistanzen. Außer von tiefem Sand und Schlamm lasse ich mich durch nichts abschrecken.

Wenig Gepäck und eine ausgewogene Rahmengeometrie helfen (neben guten Beinen), dennoch agil zu bleiben und flott voran zu kommen. Das ist eine wahre Stärke meines Rades der Manufaktur Pure Bros. Ich fahre 28 mm Touring Plus Reifen von Continental. Der Gummimischung und dem Pannenschutz traue ich durchaus 10.000 km Laufleistung zu. Leider wird der Reifen nicht mehr produziert. Würdige Nachfolger sind wohl die Modelle Ride Tour bzw. Top Contact II. Je größer der Anteil an Schotterwegen bei einer Tour wird, desto sinnvoller sind natürlich breitere Reifen. Bei der aktuellen Tour wären 32 mm Reifen bereits deutlich von Vorteil gewesen. Liegt der Anteil von Schotterwegen über der Hälfte der Strecke, würde ich sogar auf 37 mm Reifen umrüsten. Der Pure Bros Rahmen ist so genial universal, dass sogar Reifen von 37 mm Breite mit Schutzblechen und 42 mm Reifen ohne Schutzbleche montierbar sind. Die robuste und dennoch relativ leichte TK 540 Felge von DT Swiss lässt da einiges zu. Sie wurde vom Laufradbau Studio Light Wolf zu einem exzellenten Laufradsatz komponiert.

Zur Veranschaulichung mag exemplarisch die folgende Fotosammlung (von verschiedenen Tagen) dienen. Die Klassifizierung der Straßen (linkes und rechtes Foto) ist jeweils identisch!

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Ungleiche Straßen gleicher Klassifizierung und was einem sonst noch so unter die Räder kommt

So gesehen bietet mir der Tag in der Tat von allem etwas. Von EU-Förderasphalt bis zu üblen Pisten und von stark frequentierten Fernstraßen bis zu romantischen, einsamen Waldwegen. Kleinere Dörfer bieten kaum eine Versorgungsmöglichkeit und ansonsten komme ich höchstens an kleineren Bauernhöfen vorbei. Ich kann allerdings gut von meinen Vorräten leben. Diese mitführen zu können, war der Grund, dieses Mal mit Gepäcktaschen, anstatt mit Sattel- und Lenkertasche unterwegs zu sein. Es scheint auch eine Entwicklung vom Sklep zum Supermarkt im Gange zu sein. Ich sehe öfter aufgegebene Läden. Das Einkaufsgeschehen konzentriert sich zunehmend auf die größeren Orte mit Supermarkt.

Radwanderwege
Radwanderwege

In Acht nehmen sollten man sich vor polnischen Radwanderwegen. Ich habe diesbezüglich zwar nicht recherchiert, hege aber den begründeten Verdacht, dass sie immer in irgendeinen Wald mit unfahrbaren Sandwegen führen.

123 Kilometer unter diesen Bedingungen und an so kurzen Tagen zurückzulegen ist schon eine ehrliche Sache. Daher kann ich das angenehme Ambiente eines kleinen Hotels in der Nähe von Kruszwica umso mehr annehmen. Ich finde es verblüffend in dieser Gegend überhaupt so ein Haus vorzufinden. Aber ich will mich natürlich nicht beschweren…smile. Viel ist dort nicht los und so komme ich den Genuss der ungeteilten Aufmerksamkeit der einzigen Kellnerin. Wir plaudern angenehm auf Englisch, im Hintergrund läuft moderne Tangomusik von Gothan Project. Polen überrascht mich mit seinen Gegensätzen täglich auf’s Neue.

Navigationsarbeit

In der Nacht zum fünften Tag dreht der Wind auf Südwest und beschert, was er meistens in Europa beschert. Nieselregen, Regen, Schauer, Starkregen und das bei unteren einstelligen Temperaturen. Ein Genießertag wird das nicht, soviel ist klar. Da mir aufgrund des Bahnchaos bei der Anreise ein halber Tag verloren ging, habe ich auch nicht wirklich eine Alternative. Also Regenjacke und Überschuhe an. – Und los!

Gerade an solchen Tagen mag ich keine Zeit mit Kartegucken und Auskühlen verlieren. Mein set up besteht aus einem Garmin Edge 1000 GPS Gerät, einer Übersichtskarte 1:850.000, einem outdoor tauglichen Smartphone mit Google Maps Anwendung und einer möglichst soliden Vorbereitung.

Das Ergebnis der Vorbereitung ist eine Route, die als GPS Track auf dem Garmin Gerät gespeichert ist. Diese Route ist mein Basisszenario, welches in der Regel sehr gut passt. Hier in Polen besteht die Unsicherheit der Straßenzustände der jeweiligen Klassifizierung. Kleinräumige Abweichungen von der Basisroute nehme ich über den Garmin Navigator vor. Zur Orientierung und schnellem Prüfen von Alternativen kann Google Maps eine wertvolle Hilfe sein. Die Übersichtskarte dient in erster Line eben der Übersicht. Bei einem elektronischen Systemausfall ist sie zudem mein Backup, nachdem ich zur Not fahren könnte. In diesem Fall wäre der Maßstab dafür nicht so sehr geeignet gewesen. Ich denke, kleiner als 1:500.000 sollte er nicht sein.

So spule ich im Regen reine Arbeitskilometer ab. Die Straßen sind unkritisch, die Streckenführung unspektakulär. Eine postsozialistische Blechbushaltestelle zur richtigen Zeit schützt mich vor einen fulminanten Wolkenbruch. Ich navigiere durchweg mit dem Garmin Gerät, prüfe unterwegs aber zwei oder drei Mal, ob es alternative Routen gibt. In Wloclawek erreiche ich den nächsten großen Strom, die Weichsel. Sie ist fast 1050 Kilometer lang, wovon 914 schiffbar sind. Das Einzugsgebiet ist beeindruckende 200.000 km² groß. Mich fasziniert ihre mächtige Breite.

Wloclawek wird von rund 110.00 Einwohnern bewohnt und besitzt seit 1261 die Stadtrechte. Im 19. Jahrhundert war die Stadt ein Industriestandort mit bekannten Unternehmen. Darunter waren alleine vierzehn Brauereien. Gegenwärtig provitiert die Stadt von einem Technologie- und Industriepark, der mit EU-Fördermitteln, staatlicher Programme und Investitionsanreizen entstand. Internationale Unternehmen sind dort aktiv. Im Bildungsbereich sorgen fünf Hochschulen und 15 Oberschulen (z.B. für Chemie, Pharmazie und Elektronik) für den Nachwuchs an Fachkräften. Diese zu halten ist bestimmt nicht so leicht, winken in Warschau doch höhere Löhne. Trotz allem lag Ende 2012 die Arbeitslosenquote bei 22%.

Mir scheint als habe Wloclawek dennoch deutliche Probleme. Ein Teil der Innenstadt ist mit solider sozialistischer Platte noch in Takt, aber die eigentliche Hauptgeschäftsstraße ist verwaist. In den Nebenstraßen sind ganze Hauserzeilen wegen Einsturzgefahr gesperrt, was nicht bedeutet, dass dort nicht noch Menschen wohnen würden. Es sieht erschreckend nach Slum aus. In Ansätzen scheint sich was zu tun, aber der Progress ist wohl zäh.

Platte in Wloclawek
Platte in Wloclawek

Ich versüße mir die Stimmung in einem Traditionscafé (immerhin von 1947). Interessanterweise wird dort der Kuchen nicht nach Stücken, sondern nach Gewicht abgerechnet. Die Serviceorientierung scheint auch durchaus noch sozialistisch angehaucht zu sein. Während zwei ältere Bedienkräfte in aller Ruhe einen ausgedehnten Schwatz halten, muss die Jüngste alleine die lange Schlange von Kunden abarbeiten. Erstaunlicher Weise ohne, dass sich ein Kunde beschwert. Das scheint was von alten Zeiten zu haben.

Nach der Querung der Weichsel folge ich flussaufwärts dem Ufer. Das Wetter ist nicht besser geworden. Aber die Straßen sind in Ordnung und ich staune über so manchen Panorama Blick über die weite Weichsel. Sogar kleine Segelhäfen gibt es hier.

Die 120.00 Einwohner Stadt Plock an der Weichsel, ist dann mein Tagesziel. Plock wird ebenfalls erstmals im 9. Jahrhundert erwähnt. Die Altstadt ist sehr sehenswert. Ich rolle allerdings nur einmal langsam durch die Gassen und dann zieht es mich an diesem kalten Regentag nach 112 km in die Unterkunft.

Das Haus liegt oberhalb des Flusses und von meinem Zimmer aus habe ich einen weiten Blick über die Weichsel. Zum Abend klart es im Westen auf und die untergehende Sonne blinzelt in mein Zimmer.

Zimmer mit Blick auf die Weichsel
Zimmer mit Blick auf die Weichsel

Derweil studiere ich die Übersichtskarte und recherchiere im weiteren Streckenverlauf nach Unterkünften. Mir bleiben nun noch drei Tage für die etwa 350 km nach Bialystok. Im Normalfall passt das gut und für den Regenfall würde es ungemütlich, aber dennoch machbar sein. Es wird aber deutlich, dass es nordöstlich von Warschau sehr dünn mit allem wird. Straßen, Orte, Übernachtungsmöglichkeiten. Da ich keine Biwak Ausrüstung dabei habe, lege ich doch einen gewissen Wert darauf, beim Schlafen ein festeres Dach ,als das einer Bushaltestelle, über dem Kopf zu haben.

Bei der Planung einer Basisroute findet bei mir die Unterkunftsdichte nicht unbedingt Berücksichtigung. Ich plane ja auch nicht tagesscharf. Das mache ich dann situativ unterwegs. Daher füttere ich den Garmin Navigator für den Folgetag noch mit modifizierten Routenabschnitten.

Weiter ostwärts

Die Sonne ist mir auch am Morgen hold und der sechste Tag schickt sich an, einer der richtig guten zu werden. Die Navigation passt und ich fahre über gute und verkehrsarme Wege durch eine Agrarlandschaft, die sich an dem nahen Absatzmarkt Warschau orientiert. Die Zahl und Dichte der Höfe nimmt zu und es wird offensichtlich viel mit Obst und Gemüse gewirtschaftet. Als Radfahrer habe ich hier deutlich mehr zu gucken, als bisher. Und ich sehe auch deutlich mehr Menschen als sonst in den ländlichen Gegenden. Auffällig ist die Größe der Höfe. Sie sind nämlich nicht groß. Traditionell in Familienhand , haben sich scheinbar auch unter der kommunistischen Führung keine staatlichen Großbetriebe entwickelt. Das heißt aber auch, dass Landarbeit hier zum großen Teil auch noch Handarbeit ist. So richtig große Landmaschinen kommen mir jedenfalls nicht zu Gesicht.

Es läuft richtig gut und ich bin hoch zufrieden. Gegen 13:00 habe ich bereits 95 km abgespult. Wenn es so weiterläuft, könnte ich heute 150 oder 160 km schaffen. Tut es aber nicht. Kaum sitze ich nach dieser ersten Pause des Tages wieder auf dem Rad, fängt es an zu schütten. Ich plane abermals um und bin froh, überhaupt eine Unterkunft in Reichweite zu finden. Nordöstlich von Warschau wird es eben wirklich dünner.

Ich steige nach 126 km in einer Feriensiedlung ab, die ihre beste Zeit in den Siebzigern gehabt haben dürfte. Mit der jungen Dame an der Rezeption ist keine Verständigung auf Englisch möglich. Mit Stift und Papier und einigen Zeichnungen, gespickt mit ein paar Zahlen, kommen wir aber dann doch klar. Die Anlage ist an einer seeartigen Erweiterung des Zusammenflusses von Narew und Bug gelegen. Ein richtig schönes Wassersportrevier. Die Anlage ist zu dieser Jahreszeit aber die reinste Geisteranlage. Außer mir ist nur noch eine polnische Familie anwesend. Daher bin ich ziemlich froh, abends sogar noch eine warme Mahlzeit zu bekommen.

Flußsegelhafen
Flußsegelhafen

Ganz und gar nicht froh bin ich am nächsten Morgen, als mir klar wird, dass es nicht mit dem verabredeten Frühstück klappen wird. Es ist bewölkt, kalt, aber immerhin trocken. Ich schwinge mich um 07:20 in den Sattel und knabbere unterwegs einen Haferflockenriegel als mobiles Frühstück. Etwas skeptisch folge ich einem sehr einsamen Betonspurplattenweg durch einen Wald. Dies erspart mir etliche Kilometer, wenn es denn klappt.  Ich habe Glück, der Weg geht nicht in einen tiefen Sandweg über. Insgesamt  läuft es mit dem Garmin Routing bestens und ich komme über wenig befahrene Nebenstraßen gut voran.

Um 08:45 entdecke ich in einem etwas größeren Ort eine Bäckerei. Aber auch hier gibt es nichts Heißes zu trinken. Außerdem ist der Laden so klein und voller Kundschaft, dass ich mein improvisiertes Frühstück draußen in der Kälte einnehme. Mittlerweile ist es so kalt, dass ich meine Überschuhe anlege, obwohl es nicht regnet. Der Herbst lässt gnadenlos grüßen. Bei der Weiterfahrt bin ich froh, am Ortsrand, mit der Hoffnung auf ein Heißgetränk,  eine halbwegs große Tankstelle ansteuern zu können. – Kaffemaschine kaputt. Da hilft nur warmfahren durch weiterfahren. Es ist wirklich lausig kalt und ich bin mir nicht sicher, ob es trocken bleibt. So entwickeln sich die letzten beiden Tage der Tour doch noch spannend.

Um 10:15 gelingt es mir erneut eine Tankstelle anzusteuern. Dieses Mal eine mit funktionierender Kaffeemaschine! Ich kann mich gerade noch beherrschen , vor lauter Freude die Bedienung zu umarmen und genieße nach drei kalten Stunden im Sattel das erste heiße Getränk.

Selten so willkommen
Selten so willkommen

Als ich mir einen zweiten Becher gönne, wird sie neugierig und ich erkläre ihr meinen Grund zur Freude. Sie macht große Augen, verschwindet und kommt lächelnd mit einem Vanille Kringel zurück, den sie mir schenkt. Wow! So habe ich Polen noch gar nicht erlebt. Englisch, Polnisch, Deutsch radebrechen wir noch ein wenig und  erfreuen uns wohl beide an der Abwechslung.

Die Fortsetzung des Weges läuft so geschmiert wie vorher. Nur einmal muss ich für ein paar Kilometer auf eine Fernstraße. Da sie schmal ist, ist es anstrengend mit dem Verkehr. So bin ich anschließend im wahrsten Sinne des Wortes heilfroh, wieder auf einer Nebenstraße fahren zu können.

Gegen 14:00 fallen erste Regentropfen und der Himmel sieht sehr bedrohlich dunkel aus. Da ich gerade in einem größeren Ort bin und ohnehin Hunger habe, versuche ich ein trockenes Plätzchen zu finden. Neben mir auf dem Gehweg führt eine Frau von Ende Zwanzig ihren Hund aus. Ich will nicht unnötig lange in dem Ort herumkurven und frage nach einem Tipp. Zum Glück spricht sie Englisch. Sie bietet mir an, mich zu einem kleinen Restaurant zu führen, welches von ihrer Freundin geführt würde. Zudem sei sie ohnehin gerade auf dem Weg dorthin. Ich nehme das Angebot dankend an und wir tauschen uns etwas aus.

Der Laden ist dann halb Kneipe und halb Restaurant und ich werde gleich als Special Guest , der Radfahrer aus Deutschland, vorgestellt. Bei der Freundin und bei den Typen aus dem Dorf, die bereits am Tresen lungern. Ich habe den Eindruck, meine Begleiterin Liliana genießt das außerordentlich. Ich finde das jetzt auch nicht unangenehm und so essen wir zusammen eine Kleinigkeit und reden über das Leben in Polen und in der Welt. Manchmal meine ich einen leichten Zwiespalt herauszuhören. Einerseits lockt die Sehnsucht nach der Welt oder zu mindestens nach dem Leben in einer der großen Städte, mit all ihren Möglichkeiten, und andererseits scheint die ländliche Familienbindung doch ausgeprägter als in anderen Ländern zu sein. Die lateinische Bezeichnung Polonia wird für die polnische Diaspora benutzt, die weltweit etwa 15 bis 18 Millionen Menschen umfasst (Polen/polnischer Abstammung). In den vergangenen Jahren sind rund zwei Millionen Polen ins Ausland gegangen (bei 38 Mio. Einwohnern). Dadurch fehlen im Land Arbeitskräfte, deren Platz nachrückende Ukrainer einnehmen. Kein Wunder, dass manch junger Mensch auf dem Land von einer Zukunft außerhalb Polens träumt. Wir sitzen nach dem Essen noch eine Weile zusammen und ich bin froh, mal wieder etwas mehr über Land und Leute zu erfahren.

Irgendwann muss ich dann aber los, um auf dem Weg zur Unterkunft nicht in die Dämmerung zu kommen. Der Regen hat sich verzogen, aber der Himmel hängt nach wie vor voll mit dunklen Wolken. Gefühlt bin ich in der Mitte von nirgendwo unterwegs und ich muss zugeben, dass mich Zweifel beschleichen, ob es an der angegebenen Stelle tatsächlich ein Hotel geben soll. Ein Hotel, hier, fernab von Städten und potenziellen Gästen. Wer sollte denn hier ein Hotel aufsuchen wollen? Als ich das Dorf erreiche, welches postalisch mit der Adresse genannt ist, kann das meine Zweifel nicht verringern. Eher das Gegenteil ist der Fall. Ich müsse noch zwei Kilometer über das Dorf hinaus fahren, weist man mir den Weg. Na dann….

Gleichermaßen überrascht und erleichtert entdecke ich tatsächlich nach zwei Kilometern das Hotel. Es befindet sich zusammen mit einem, für die hiesigen Verhältnisse, sehr großen Bauernhof auf einem Grundstück. Wie sich herausstellt, wird es eher als Nebenerwerb betrieben. Da man sich auf Hochzeiten und Veranstaltungen spezialisiert hat, ist alles sehr wertig eingerichtet. Just morgen findet eine Hochzeit statt und bei polnischer Schlager- und Partymusik wird gerade der umfangreiche Blumenschmuck drapiert.

Der Sohn der Bauernfamilie nimmt mich in Empfang. Er ist so Anfang Dreißig und arbeitet als Anwalt in Warschau, hilft seinen Eltern jedoch bei den größeren Veranstaltungen. Außerdem kocht er gerne und so gelange ich noch in den Genuss eines vorzüglichen Abendmahls. Nach dem Essen setzt er sich noch zu mir an den Tisch und es entwickelt sich ein sehr gutes Gespräch. Seine Familie ist seit über dreihundert Jahren im Besitz des Hofes und zählt in der Tat zu den großen Bauern. Ihr Wappen ziert den Hof. Vor allem kann ich mal ein paar Fragen loswerden, die sich aus meinen Beobachtungen auf der Tour ergeben haben. Er ermöglicht mir einen kleinen Blick hinter die Kulissen der Gesellschaft.

Obwohl es sich weiter ostwärts immer weiter ausdünnt, war das kurioserweise heute mein kommunikativster Tag. Die „nur“ 106 km gehen für mich in Ordnung, denn gerade auch die Unterkünfte sind äußerst ausgedünnt und bestimmen die Etappen mit.

Schlussetappe

Noch 99 Kilometer bis zum Ziel. Die letzte Etappe wird zu einer speziellen Etappe. Aufgrund der Hochzeitsvorbereitungen bekomme ich morgens zeitig ein Frühstück serviert. Es ist so feudal, wie es nur zu so einem traditionellen großen Hof passen kann. Das ist auch gut so, denn ich werde die Körner noch benötigen. Vom Westen kommend, ist eine Regenfront angekündigt, die mich im Laufe des Vormittags einholen wird. Also werde ich versuchen möglichst viele Kilometer im Trockenen zu absolvieren.

Grauer Morgen
Grauer Morgen

Es ist grau und fies nasskalt. Einmal warm gefahren, lässt es sich jedoch aushalten. Bloß nicht anhalten. Ich folge meiner Garmin Route und erfreue mich an diesem letzten Tag an der Landschaft, den einsamen Straßen, den Dörfern und kleinen Höfen. Der Anteil von Holzhäusern nimmt zu. Manches Haus scheint gar aus improvisierten Materialien zusammen gebaut zu sein. Immer wieder gibt es plötzlich starke Kontraste zu Häusern, die kleinen Anwesen gleichen. Dieser starke gesellschaftliche Kontrast, die weit auseinander klaffende Schere ökonomischen Wohlstands ist in  Polen sehr auffällig. Insgesamt beginnt die Schlussetappe sehr angenehm, fast wie ein Kaleidoskop meiner Beobachtungen auf der Tour. Die Eindrücke umschmeicheln meine Seele. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, das östliche ländliche Polen als Einladung für eine Fortsetzung der Tour nach Osten zu verstehen.

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Herbststimmung

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Häuser

Aber dann, bei der Durchfahrung irgendeines Dorfes, kippt die Stimmung.  Plötzlich hetzt ein kläffender Hund hinter mir. Ich unterschätze die Töle und kann wirklich nur mit knappem Vorsprung entkommen. Böse Balkan Erinnerungen keimen auf. Seitdem bin ich etwas sensibler was Hunde angeht. Ich habe keine Ahnung, ob und wie sich die Köter abgesprochen haben. Vielleicht ist ja heute auch „Tag der freilaufenden Tölen“. Ab jetzt jagen sie mich jedenfalls am laufenden Band. Als der erwartete Regen einsetzt, kann ich nicht einmal in Ruhe meine Regenjacke überstreifen. Das Drahtkabel zur Erweiterung des Fahrradschlosses habe ich längst auf dem Lenker liegen, damit ich es schnell zur Abwehr in der Hand habe.

Hunde, die bei meinem Passieren von ihrer Scholle aus loshetzen, sind eine Sache. Da habe ich eine reelle Chance auf einen erfolgreichen Spurt. Hunde, die vom freien Feld rund um einen Hof von weitem auf mich zukommen, sind eine ganz andere Geschichte. Nachdem mich zwei solcher Köter zum Anhalten zwingen, habe ich endgültig die Nase voll. Irgendwo auf freier Strecke krame ich meine Übersichtskarte raus und plane meine, an sich so schöne, Route um. Ich teile mir lieber eine Fernstraße mit Trucks, als einsame Nebenstraßen mit hetzenden Hunden.

Ansonsten ist für mich nur noch Kette rechts angesagt. Ich erreiche die Fernstraße und treffe unmittelbar auf eine Vollsperrung. Die Umleitung führt mehr oder weniger über Nebenstraßen, die ich ja vermeiden will. Na toll! – Entschlossen fahre ich an der Baustellenabsperrung vorbei und habe für Kilometer die Strecke für mich alleine. Ich vertraue der Zuversicht, den Baustellenbereich irgendwie überwinden zu können. Dieser entpuppt sich dann als Bahnübergang im Bau. Einmal rechts-links geguckt und schwupps bin ich drüber. Die Arbeiter stört das nicht im Geringsten.

Ich kurbel was das Zeug hält. Als ich wieder den regulären Teil der Fernstraße erreiche, wird die nächste Baustelle angekündigt. Dieses Mal gilt die Sperrung aber nur für Lkw. Für Pkw ist eine Behelfsumfahrung eingerichtet. So habe ich Glück im Unglück, dass mir über viele Kilometer die Gesellschaft von Trucks erspart bleibt.

An einer kleinen Tankstelle hoffe ich einen Kaffee zapfen zu können. Die ganze Szene ist wie in einem schlechten Road Movie. Er, total fett, klemmt hinter dem Kassentresen seines Tankstellenhäuschens und verzieht nicht einen Gesichtsmuskel, als ich auf sein Tankstellengelände fahre, ohne die Absicht zu haben, nicht mindestens 300 Liter Diesel zu tanken. Sie führt  nebenan eine kleine Kneipe und hängt unbeweglich, rauchend hinter dem Tresen, um mit müden Augen eine Soap im Fernsehen zu verfolgen. Ich betrete ihr Reich und bin der einzige Gast. Ich muss aktiv auf mich aufmerksam machen, damit sie überhaupt gedenkt, sich mir zuzuwenden. Mit Mühe und sichtlichem Widerwillen werden wir uns über einen Kaffee und einen Schokoriegel einig. Ich habe keine Ahnung was sie da raucht, aber es beißt mehr in meinen Atemwegen, als die fiesen Verbrennungsprodukte der schwefelhaltigen Briketts, die vielerorts noch Verwendung finden.

Nach wenigen Minuten ist der Vorfall Vergangenheit und meine Kette liegt wieder rechts. Ganz weit rechts. Ich spule die Kilometer nur so ab. Um 13:30 erreiche ich nach einer fulminanten Regenfahrt die Stadtgrenze von Bialystok. – Und ich bin richtig froh.

Stadtgrenze von Bialystok
Stadtgrenze von Bialystok

Bis ins Zentrum sind es nun nur noch wenige Kilometer. Trotz Regen und Kälte fahre ich diese zufrieden und entspannt. Es ist einfach ein gutes Gefühl, ein gestecktes Ziel erreicht zu haben. Dazu habe ich in einer Woche fast 900 Kilometer zurückgelegt, was etwa der Distanz Hamburg – Zürich entspricht. Bis zur Grenze nach Weißrussland sind es nur knapp 60 Kilometer. Gefühlt habe ich mich noch nie weiter östlich befunden (geografisch allerdings schon).

Ein Radler, den ich nach dem Weg ins Zentrum frage, entpuppt sich als amerikanischer Medizin Student. Wir fahren ein Stück zusammen und er weist mir den Weg. Bialystok ist die Hauptstadt der Woiwodschaft Podlachien und ist Standort für drei Universitäten und zwei  Fachhochschulen. Für eine Stadt mit knapp 300.000 Einwohnern finde ich das schon sehr bemerkenswert. Im 16. Jahrhundert erstmals urkundlich erwähnt, gehörte Bialystok quasi ab 1665 der Familie Branicki, die es zur Residenzstadt ausbaute.

Branicki-Palast, heute Medizinische Universität
Branicki-Palast, heute Medizinische Universität

Die Lage an der 1862 eröffneten Warschau-Petersburger Eisenbahn, begünstigte die Industrialisierung. Heutzutage ist Bialystok Polens bedeutendster Verkehrshalt der Rail Baltica (Warschau-Kaunas/Vilnius). Man darf da allerdings seine Erwartung nicht zu hoch hängen. Konkret sieht das wie auf dem folgenden Foto aus.

Bedeutender Verkehrshalt der Rail Baltica
Bedeutender Verkehrshalt der Rail Baltica

Aber ich habe mein Ziel natürlich mit Bedacht ausgesucht. Wenn ich vom östlichen Polen irgendwie mit dem Zug retour reisen kann, dann sicherlich von hier aus. Außerdem habe ich ja noch immer kein Ticket und mein Zug nach Berlin verlässt Warschau morgen um 12:45. Laut Fahrplan soll es immerhin klappen. Der Rest findet sich eben morgen.

Ich folge derweil der Empfehlung des Studenten und steuer ein sehr, sehr nettes Café an. Bei warmem Beerenstrudel und Heißgetränken genieße ich ausgiebig die Wärme und das Angekommensein.

Warmer Beerenstrudel
Warmer Beerenstrudel

Epilog

Um es vorweg zu nehmen. Ich habe die begehrten Tickets erstehen können. Wenngleich ich bei dem Prozedere das Gefühl hatte, Anteile an der Polnischen Staatsbahn zu erwerben.

Natürlich lief die Rückreise nicht ohne Verspätung ab. Hätte ich nicht ohnehin schon die Zwischenübernachtung in Berlin geplant, hätte ich diese noch organisieren dürfen.

Begehrte Tickets
Begehrte Tickets

                                           

Die Strecke von Bialystok nach Warschau legte ich in der Gesellschaft von Krystyna zurück. Wir halfen uns gegenseitig beim Einladen der Räder. Sie war die weltgewandteste und offenste Person, die ich getroffen habe. Als Anwältin hat sie in Warschau, europäischen Ländern und in den USA gearbeitet. Krystyna ermöglichte mir Einblicke in das gesellschaftliche Leben und in die wirtschaftliche Situation unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen und bestätigte meinen Eindruck, dass es trotz einer Arbeitslosenquote von nur 4,7%  Armut auf dem Land gibt. Bei unserem Diskurs über EU- und Innenpolitik haben sich unsere Standpunkte zwar nicht aufeinander zu bewegt, aber es war schon Horizont erweiternd. In jedem Fall hatten wir eine gute Zeit und haben auch viel gelacht. Sie ist in Bialystok aufgewachsen und nimmt sich gerade eine Auszeit, um dort für die ersten Jahre ihre Kinder großzuziehen. Nun war sie auf dem Weg nach Warschau, um ihrem Mann ihr Fahrrad zu bringen. Seins wurde gestohlen.

Am Warschauer Hauptbahnhof ergaben sich hilfreiche und angenehme Kontakte in der Schicksalsgemeinschaft der Wartenden. Danke Christoph, für die Übersetzung der Lautsprecherdurchsagen!

Warm geworden mit Polen? – Um ehrlich zu sein, nein, nicht wirklich. Obwohl ich Radfahren in Dithmarschen gewohnt bin, finde ich es befremdlich, nahezu ohne Interaktion mit den Menschen in einem Land unterwegs zu sein. Ein einziges Mal wurde ich vor einem Sklep von zwei interessierten Landarbeitern auf das bepackte Rad und meine Tour angesprochen – von zwei Ukrainern. Dass mangelnde sprachliche Schnittmenge kein Hindernis sein muss, habe ich auf angenehme Art auf dem Balkan (und ein wenig in Dithmarschen) erfahren. Fairerweise muss ich zu Gute halten, dass ich auf dieser Tour zwar wenige direkte, aber dafür eher intensive Kontakte hatte.

Weiter nach Wladiwostok? – Das weiß ich noch nicht. In der warmen Stube ist so etwas schnell mal ausgeheckt. Unterwegs ist (im übertragenen Sinne) jedoch auch mit eisigem Gegenwind zu rechnen. Aber ein Traum ist es schon. Unter Berücksichtigung der Trans Canada Tour von 1985 käme ich so auf der Nordhalbkugel quasi einmal um den Globus…smile. Die Machbarkeit ist immerhin positiv überprüft. Projektstatus hat die Sache aber noch nicht. Da sozioökonomische Randbedingen (um es mal so auszudrücken) derzeit keine Langtour ermöglichen, kann ich mich immerhin gut mit dem Gedanken von Etappenfahrten anfreunden. – Mal schauen. Von Bialystok nach Moskau ist es ja nicht so weit…

Nächster Halt Moskau ???
Nächster Halt Moskau ???

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Andreas Thier 10/2017

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